Freitag, 31. Oktober 2008

Die Liste

Ich bin kein Schriftsteller, und vermutlich auch kein talentierter Blogger. Sonst hätten sich bereits mehr als sechs LeserInnen auf diese Seite verirrt. Daher bin ich nicht beleidigt, wenn jemand mit mehr Talent - und Mut - sich dieser Analyse annimmt und mehr daraus macht, was auch immer. Es wäre nur schön, namentlich erwähnt zu werden.

Ich will daher einfach nur berichten, wie es zu den bald einsetzenden Ereignissen des heutigen Abends kommen konnte. Das meiste davon ist bekannt, vielleicht von mir nur anders arrangiert und hier und da bewertet. Ich glaube das die morgige Welt eine andere sein wird, und ein einziges Mal nur will ich der erste sein der es vorhergesagt hat.

Meiner Meinung nach wurde der Grundstein vor zwei Jahren gelegt, mit der Einführung der „Realme.ID“. Was andere Dienstleister zwar versucht, aber nie wirklich umsetzen konnten wurde Realität: ein verlässlicher digitaler Ausweis für das Internet. Auch wenn sich die Datenschützer mokierten, die Vorteile dieses digitalen Telefonbuchs lagen auf der Hand: endlich konnte man Personen verlässlich finden, im echten Leben wurzelnde Dienste aufsetzen. Auch wenn jeder von uns noch Anonyme Accounts pflegt: keine Buch-, Musik-, Filmbestellung mehr ohne Realme.ID, und eigentlich freuen wir uns darüber das alles so einfach geworden ist.

Für die Partnersuche-Portale war das problematisch, wollte sich doch jeder die Hintertür des „er wird mich im echten Leben nicht finden“ offen halten. Nur ein Portal hatte die richtige Idee: matchr.com. Als das Portal vor 18 Monaten online ging, war das einer der Momente wo ich einmal mehr dachte: „Warum nur. Warum hatte ich nicht diese simple Idee.“ Da viele erst nach dem „History“ Update registriert waren, hier noch mal das Konzept der frühen Tage:

Man registrierte sich mit seiner Realme.ID und hinterlegte im System die Realme.IDs der Menschen, mit denen man anbändeln wollte. Die drei wählbare Kategorien sind bis heute unverändert geblieben: „würde ich gern mal wieder sehen“, „könnte ich mir eine Beziehung mit vorstellen“ und natürlich die legendäre „unproblematischer Sex wäre toll“ Rubrik. Auch das „match“ Prinzip ist unverändert geblieben: nur wenn beide Menschen den jeweils anderen in derselben Kategorie im System hinterlegt haben, werden beide informiert und - nun ja - dann passiert eben was passiert. Wenn nur einer den anderen hinterlegt, erfährt der andere dies nie, dem Hinterlegenden kann nichts passieren.

Der durchschlagende Erfolg ist bekannt: 5 Mio. registrierte Nutzer binnen drei Wochen, vor allem in den großen Städten. Auch der neun Monate später folgende „MatchBabyBoom“ ist gut dokumentiert, ebenso das etwas skurril anmutende Ansteigen kirchlicher Trauungen: offensichtlich wurde versucht dem Mangel an Romantik bei der Verkupplung mit prunkvoller Kirchenstimmung entgegenzuwirken.

Praktisch über Nacht wurde scheinbar ein ewiges Menschheitsproblem gelöst: ohne besonderen Mut oder originelle Balz-Aktionen konnte man seine Partner finden, offen und ehrlich auf der Basis von beiderseitigem Einverständnis. Der Flirtalltag wird seitdem für die meisten Menschen nur noch dadurch bestimmt, wie schnell man nach einem Date die RealMe.ID des anderen hinterlegt - oder eben nicht. Bei Jugendlichen nimmt das ja mittlerweile extreme Züge an - dank mobilem Internet schnell in der Kneipe aufs Klo und nachsehen, ob die Angebetete bei Ihrem letzten Klogang schon etwas hinterlegt hat. „SpeedMatch“ nennt man das wohl, wenn nichts hinterlegt ist muss man auch aber nicht in Depression verfallen: vielleicht gehört sie ja zu den „Growern“ die sich ein paar Tage Zeit lassen. Und wenn nicht: was solls, sie wird ja nie erfahren das ich sie hinterlegt habe.

Als vor einem Jahr das „History“ Update kam, wurde die Sache für die breite Masse interessant, und ich kenne in der Tat niemanden, der seitdem nicht registriert ist. Der Gedanke, auch alte Verflossene und verpasste Gelegenheiten aufspüren zu können, hat einfach zu viel Reiz. Es hat schon etwas tröstliches, mit etwas beiderseitigem Glück all die ehemals interessanten Menschen wieder finden zu können, und sei es auch nur auf eine Tasse Kaffee.

Mit dem unverfänglichen History Bereich wurde auch ein wachsendes Vertrauensproblem gelöst: das immer häufiger werdende „PartnerPinging“, bei dem zumeist Frauen ihre Partner dazu zwangen ihnen zu zeigen ob sie etwas bei matchr.com hinterlegt hatten und wen. Da jetzt alle registriert sind, hat auch jeder etwas zu verlieren, und die Eifersuchtsdramen haben sich auf das übliche Maß reduziert.

So hätten wir jetzt alle glücklich weiterleben können, wenn nicht vor einem halben Jahr David Crozny seinen Blogeintrag geschrieben hätte. Seine Analyse des Datenmodells von matchr.com ist keine Raketenforschung, und eigentlicher hätte jeder auf das Konzept der „Inversen Liste“ kommen können. Ich vermute seine Leistung bestand vor allem darin, die Schlussfolgerungen prägnant auszudrücken, in seinem berühmten letzten Satz:

„Machen Sie sich das bitte bewusst: Im „matchr.com“ System liegt vermutlich wichtigste Information Ihres Lebens hinterlegt, aber Sie können nichts tun um diese Information zu erhalten.“

Und in der Tat, das ist schon sehr bitter. Jeder nutzt das System, und füllt es nach bestem Wissen und Gewissen mit Namen in den drei Rubriken. Daraus ergibt sich natürlich für mich die „inverse Liste“: all die Menschen, die mit mir in der Vergangenheit - oder auch jetzt - etwas anfangen wollten oder wollen, die mir aber entfallen sind, oder bei denen ich kein ernsthaftes Interesse mehr habe oder hatte. Statistiker haben errechnet, das pro Mensch auf dieser Liste allein im Schnitt 30 Namen in der „Sex“ Rubrik stehen - und wir sollen es nie erfahren. Die moralischen Implikationen sind nicht ohne, und so wurde es ja zu einem beliebten Partyspiel: „würdest Du deine Liste einsehen wollen? Wenn sie jetzt hier auf dem Tisch läge?“ Alle wollen. Alle.

Die Reihe der Einbruchs- und Bestechungsversuche bei matchr.com ist bekanntlich endlos, legendär das 10 Mio. € Angebot für eine einzige inverse Liste oder der Hungerstreik. Aber wie soll man eine Firma beeinflussen, die Google binnen Monaten im Kapitalwert überholt hat.

So bleibt uns nichts übrig, als in der Tat mit der Gewissheit zu leben das diese Informationen dort liegen, wir aber nicht herankommen.
Bis heute.

Es ist jetzt 19.40 Uhr, und in etwas über einer Stunde wird „Pandora“ online gehen. Meine Kontakte zu der unter dem Namen „Kommando Cassandra“ firmierenden Crew sind nicht die engsten, aber es hat gereicht das sie mir diese Stunde Vorsprung geben. Endlich, einmal nur, werde ich der erste sein der über etwas wirklich Relevantes hier in meinem Blog berichtet hat.

Ich habe keinen Zweifel das die Muster echt sind und sie wirklich matchr.com gehackt haben. Es spricht für die Jungs, das sie nicht gleich den ganzen Datenbestand ins Internet stellen: dann wüsste in der Tat meine Frau sofort wen ich so alles angegeben habe. Man wird nur seine eigene, inverse Liste abrufen können. Die Liste all jener, die jemals verliebt in einen gewesen sind. Und natürlich - diese dritte Rubrik.

Ich werde mir meine Liste ansehen. Ich glaube aber, das ich da wenig finden werde was mich in Versuchung führen wird. Ich liebe meine Frau, und bei den meisten Namen werde ich es mir schon gedacht haben. Die Unerwarteten werden es nicht wert sein dafür etwas zu riskieren. Vermutlich.

Aber wie steht es mit Dir, werter Leser. Wirst Du Deine Liste ansehen? Was wirst Du dort finden. Wirst Du Dich geschmeichelt fühlen. Wird es Dir wie Schuppen von den Augen fallen. Wirst Du Weinen vor Verzweiflung ob der verpassten Gelegenheiten.
Wen wirst Du anrufen.
Wo wirst Du morgen aufwachen?

Und was - was wenn Deine Liste leer ist.

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